Marathon als Kunst betrachtet – Paris 2009

Mit der Hochgeschwindigkeitsstrecke ist Paris ab Mannheim eigentlich ein Duathlon: gute 3 h Zugfahrt, gute 3 h Laufen, gute 3 h zurück.

Freitag abend angekommen, setzten Lore und ich uns noch in eine der zahllosen Brasserien, kleine Tischchen mit Korbstühlen auf dem Bürgersteig, und entdeckten rasch, warum in Paris die Stühle der Straßencafes stets alle zur Straße hin ausgerichtet sind. Bei Preisen von 9 € der halbe Liter Bier trennt sich die Welt in Pariser (und Touristen), die sich das leisten wollen, und in die Anderen – und die kann man im Sitzen dann gemütlich / genüsslich besichtigen, wie sie ohne die Labsal von Speis und Trank vorüberlaufen müssen. Es wurden allerdings Schummler beobachtet – bei einer Tasse Kaffee (1,80 €) eine dreiviertel Stunde lang sitzen bleiben.

Am Samstag ging es auf das Messeglände zum Abholen der Startunterlagen, perfekt organisiert, kein Stau, und erfreulicherweise war der Eintritt in die Marathonmesse hinter der Ausgabe, d. h. „freiwillig“ – sehr fair. So blieb noch viel Zeit für das Musée d’Orsay, ein ehemaliger Bahnhof an der Seine, in dem heute Malerei und Plastik von 1850 – 1892 ausgestellt sind. Nur ein Schelm bemerkt die Differenz 42 – Marathon der Kunstentwicklung? Los ging es mit Naturalismus (das deckt sich mit der Sicht des Marathonis zu Beginn des Laufes, er sieht die Welt noch wie sie ist), Schlachtengemälden mit sovielen Personen pro Bild wie Teilnehmern auf einem km Strecke, Heldenstatuen in allen Posen: Km 5, es läuft noch, heute wird es eine Bestzeit. Manet, das berühmte Bild „Frühstück im Gras“, mehrere Herren (bekleidet) picknicken im Park mit einer Dame (nackt), das wäre dann wohl im Parque de Vincennes, km 15, zu erwarten. Monet, die ebenfalls bekannte Serie von 5 Bildern der Kathedrale von Rouen, impressionistisch gemalt, schon etwas verschwommen (Weltsicht des Marathonis bei km 30?), morgens, vormittags, über mittags und abends in unterschiedlicher Beleuchtung; was hat der Maler dazwischen gemacht? Vielleicht Trainingsläufe? Aber wahrscheinlich saß er auf einem dieser Korbstühle in der Brasserie gegenüber, trank seinen café für 5 Centimes und überlegte, wovon er seine nächste Ölfarbe kaufen könne. 1891 schließlich (letzter km!) war der Pointillismus erfunden, Malerei nur aus bunten Punkten, Falschfarben inklusive – Tunnelblick auf km 41, die reale Welt wird langsam ausgeblendet, das Auge nimmt nur noch ein Farbspiel wahr. Wir wissen, wie es weitergeht, Jahre später kam die abstrakte Kunst, vom Typ „schwarzes Quadrat auf schwarzem Grund“, das wäre dann das Sani-Zelt.

Sonntag morgen geht es los, vor Aufregung noch dreimal aufs Klo gerannt, dann zu Fuß vom nahen Hotel zum Arc de Triomphe; Startaufstellung am Beginn der Champs-Elysées. Alles ordentlich aufgeteilt, jeder Startblock hat sein eigenes Feld. Ich gehe rein (Block für Zielzeit 3:45), gemeinsam mit mehreren Tausend Gleichgesinnten. Drinnen gibt es für diese Tausendschaft, ratet mal wieviele Toiletten? ZWEI! Schlange jeweils 40 Personen, Zeit bis zum Start 25 Minuten, also wer da dringend muss, hat ein ernstes Problem. Offenbar sehen die Franzosen den Lauf als vergeistigte, körperlose Kunst an. Immerhin gibt es ein Pissoir, auch dort eine Schlange, 4 Minuten vor dem Start merke ich voll ungläubigem Entsetzen, wie lange manche Männer pinkeln können. Start, es läuft alles recht behäbig, überhaupt wird der Lauf durchgehend relativ gedrängt sein, da zwischendrin und am Ende die Straßen und Wege schmäler sein werden. Den 1. km mit 5:00 „gehast“, um die notorischen Startleichen zu überholen, Rolf, der Mitstreiter, verschwindet umgehend aus dem Gesichtsfeld. Dann gehe ich es ruhig an, eigentlich habe ich mir nichts vorgenommen, Trainingspensum wie üblich unter Wunschsoll, und der Sightseeing-Aspekt ist ja beachtlich. Das Tempo pendelt sich bei 5:20 bis 5:30 ein. Place de la Concorde, in der Mitte der Obelisk, Beutegut von Ramses II aus Luxor, allerdings vom ägyptischen König damals tatsächlich geschenkt (Frankreich war Kolonialmacht, was „Geschenk“ so eben heißt), entlang am Louvre, immer wieder Blicke quer auf die Seine, Place de la Bastille mit der neuen Oper, hupps ein Stau: Ist da die Fußgängerampel rot?? Nein, nur die Straßenbreite halbiert sich in den Häuserschluchten, das kostet sicherlich 30 Sekunden. Der erste (von drei) Tempoläufern der 3:45 mit seiner violetten Fahne überholt mich: Ziehen lassen! – Ich habe ja nichts vor. Park und Chateau de Vincennes, ein riesiger Barockschuppen, in dessen Vorgarten das Schloss von Heidelberg locker reinpassen würde, ein ebenso riesiger Park (km 10-20), da frühstücken wohl die nackten Damen von Manet. Leider überholte mich am Parkeingang der zweite Tempoläufer (eine Dame, bekleidet), und danach der dritte (männlich), ganz ganz gemütlich zog er vorbei, was mich so ablenkte, dass ich vergaß, nach den Damen von Manet zu schauen. Statt dessen beschloss ich, da bleib’ste mal dran. Die Beine waren ok, der Atem weniger, vor der Halbzeit das Tempo anziehen, eigentlich ja Blödsinn. Viel essen! Und die externe Wasserkühlung (es wurden stets Flaschen ausgegeben, sehr hilfreich) verstärken. Km 22 – die Route führt wieder zurück in die Innenstadt – eigentlich, dachte ich mir, ist der zweite Tempoläufer (die Dame, immer noch bekleidet) ja nicht sooo….weit vorne. Da komm’ste doch hin!? Zwei km Sprint mit 5:00 (Laufstrategen bitte weglesen), und schon war ich dran, ziemlich im Fettbereich, noch 18 zu laufen. Das kann nicht gutgehen. Hatten einige der Heldenstatuen im Musée d’Orsay nicht irgendwie so verkniffene Gesichter? Links könnte man die Kathedrale von Notre Dame sehen, aber der Tunnelblick setzt ein. Jetzt geht es durch einige echte Tunnels, wieder ziemlich eng, runter ordentlich laufen lassen, um die lila Fahnenträgerin nicht zu verlieren. Motto dranbleiben koste es was es wolle. Wie schnell 5:20 sind! Nun kommt das touristische Highlight, entlang des Seineufers unterm Eiffelturm vorbei, das Touristenherz lacht, dieser Kilometer trägt einigermaßen. Ups, schon wieder ein paar Meter auf die Tempoläuferin verloren. Eine Verpflegungsstelle, zu Banane und Wasser gehechtet ohne Stopp, zu meinem Schrecken hatte ich bemerken müssen, dass die (bekleidete) Dame auch ein ätherisches Wesen aus der Welt der Kunst sein muss, denn sie nimmt nie Verpflegung auf – für Otto Normalläufer eine echte Stresssituation – Atem am Anschlag und eine Banane in der Backe. Raus in den Bois de Boulogne, km 35, also ich komme echt nicht mehr mit und lasse langsam abreißen. Das Großhirn sieht schon verschwommen – Pointillismus im Geiste -, das Kleinhirn beschließt, mit optimierter Atemtechnik weiterhin maximal am Ball zu bleiben, die Beine sind immer noch ok. Die Uhr sagt 5:20 plusminus. Im Grünen eine Station mit schottisch klingender Musik, Endorphinproduktion setzt ein, das berühmte „Glücksgefühl“ – ich versuche es auszunutzen und laufe 200 m etwas schneller. Km 37, die zweite Tempoläuferin ist auf der geraden Parkallee in der Ferne noch zu sehen, der dritte muss noch hinter mir sein, ich wage nicht mich umzudrehen. Konzentration auf die Atemtechnik. Wasserstation? – Auslassen, das kostet nur Sekunden. Ständig muss man, immer noch, überholen, da wohl viele Erstläufer sich die Strecke nicht gut eingeteilt haben; km 40, die Uhr sagt, 33:25, so genau kann ich nicht mehr rechnen, aber für eine Zeit mit 3:45 könnte das gerade noch reichen: Konzentration: Hirn an Lunge – ein! Hirn an Lunge – aus! Wie war das mit dem schwarzen Quadrat auf schwarzem Grund? Wie lange 1000 m sein können! Die 42 steht auch noch um eine Ecke, die Uhr: 44:03. Der Leser weiß schon, 200 m in 1 min sind 5:00, aber – ein Wunder – es geht leicht bergab auf der Zielgeraden Avenue Foch Richtung Arc de Triomphe: Volle Kanne anaerob, atmen ist später! Natürlich habe ich auf dem Balken nicht auf die Uhr gedrückt, ich war mit Bremsen beschäftigt, aber gekotzt an der Barrikade dahinter hat nur mein Nachbar. Wie war jetzt meine Zeit?? Die Bruttouhr zeigt 3:49, damit kann man natürlich nichts anfangen.

Lore holte mich hinter der Zielverpflegung ab, wir verprassten am Nachmittag, nach einer Dusche im Hotel und vor der Heimfahrt im TGV (Zielzeit < 3:45), noch einige Euros in Restaurants und Cafés, mit Crêpes, Crême Brulée, Eis und Co, und – die Beine waren immer noch gut – gönnten uns noch einen Blick in den künstlerischen Ultramarathon, sprich das Centre Pompidou mit Werken der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Lore fielen sofort eine Serie (natürlich nackter) weiblicher Statuen von Rodin auf, die sämtlich auf einem Bein balancierend, sich den zweiten Fuß betrachteten – wohl eine Blutblase gelaufen?? Neben dem „Schwarzen Quadrat“ gab es auch Chagall zu sehen, schwebende Traumgestalten – die waren wohl endorphingedopt -, sowie Werke des Surrealismus, z. B. von Magritte ein Porträt mit Gesicht neben der Person und ihrem Gehirn – eine gewisse Unordnung bzw. Abschaltung von Gehirnfunktionen soll unter Zuckermangel ja vorkommen.

Fazit: Aus läuferischer Sicht ist die Geschichte der jüngeren bildenden Kunst einwandfrei zu erklären – waren vielleicht alle bedeutenden Künstler Läufer? Eine neue Frage an die Historiker. Zuhause am späten Abend im Internet: 3:44:59. Locker!

Gunther Mair