Wo die Welt noch in Ordnung ist – 42,2 km in CSU-Land

23. Mai 2009, Lore und ich fahren von Mannheim gen Osten, den Champion-Chip und ein paar Müsliriegel im Gepäck. Auf einmal wird der blaue Himmel noch blauer, die wenigen Wolken noch weißer, die Nase halluziniert den Geruch von Hefeweißbier – wir sind in Franken: CSU-Land.

Im Kongresszentrum von Würzburg, angenehm kompakt und übersichtlich, architektonisch gelungen im Norden der Altstadt direkt am Mainufer integriert, die Marathonmesse – davor volles Rohr eine brasilianisch angehauchte Trommlerband – genauer zwei, die sich abwechseln. Von provinzieller Beschaulichkeit nichts zu spüren, es tobt der Bär. Im kommerziellen Messebereich ein Laufsteg, auf dem eine – sicherlich streng katholische – jüngere Dame Bademoden präsentiert: CSU-Land eben.

Lore muss ich dies erklären; in einem streng katholischen Land fehlt ja sozusagen die Erfahrung der Reformation, jede Sünde ist mit Beichten und Ablass aus der Welt zu schaffen, Pfarrer dürfen zwar nicht heiraten, aber die Kirche zahlt bis zum dritten Kind die Alimente (so sagt es wenigstens die Mundpropaganda), vielleicht sind auch die Sambabands Zeichen einer tiefen inneren Verbundenheit mit dem ebenfalls streng katholischen Brasilien, das Weltmarktführer für Viagra und Kondome ist. Hier ist die Welt eben noch in Ordnung.

Am selben Abend Treffen mit den Laufkollegen Andreas, Rolf und Bernd samt Begleitung, sowie mit Tochter Iris samt Freund, die uns – studienhalber hier wohnend – beherbergen wird, im Restaurant Alte Mühle direkt an der Alten Mainbrücke, über die morgen die Marathonstrecke führen wird.

Nach dem guten und trotzdem preiswerten Essen schreibt uns die aufmerksame und flinke Bedienung, fränkischer Akzent mit irgendwas dabei, die Rechnung per Hand, addiert die Zahlenkolonnen mit schriftlichem Übertrag, wie man das früher gelernt hat, und bittet uns, nachzurechnen. “Wenn Sie aus…“, um eine Region zu nennen, deren Idiom sicher nicht das ihre ist, “…Berlin wären, würden wir vielleicht nachrechnen, aber so…“ “Wenn Ihnen das weiterhilft, ich komme aus Griechenland!“ Intergration ist hier offenbar kein Thema, hier ist die Welt noch in Ordnung.

Wir haben die Rechnung nicht überprüft.

Sonntag morgens eine dreiviertel Stunde vor Start, die Lautsprecheranlage wird erst aufgebaut, ein Typ montiert, 4 m hoch auf der Staplergabel thronend, die Uhr über dem Zieleinlauf, Barrikaden werden noch gestellt. Nirgends Hektik, hier weiß man es offenbar noch, „in der Ruhe liegt die Kraft“.

Neun Uhr, gnadenlos blauer Himmel, 30 Grad im Schatten werden erwartet, das Starterfeld setzt sich in Bewegung. 8 km in Schleifen durch die nordwestliche Vorstadt, gottseidank gibt es alle zweieinhalb km Wasser, bis die Alte Mainbrücke gequert wird, wo am Rathausplatz, umgeben von hohen historischen Gebäuden, die den Schall schön reflektieren, eine Blaskapelle donnert, die erste von vielen absolut hochwertigen Musikgruppen auf der Strecke. Der erste Endorphinschub, trotz der zunehmenden Hitze. Nun geht es mainaufwärts, und in Schleifen (Würzburg ist klein, die Strecke mäandert ständig um die Ecken, das geht nicht so wie in New York, einmal längs und wieder zurück) durch den Stadteil Frauenland, welcher in neuerer Zeit erbaut wurde, und deshalb – das Maintal ist schmal – auf einem Hügel liegt. Auf einem Hügel! Es geht dauernd rauf und runter, fast schon wie beim Weinstraßenmarathon, wie dort schaut man ständig auf die Weinberge (fränkischer Sylvaner statt pfälzischer Riesling, soll aber auch schmecken…). Der Kurs nähert sich wieder der Altstadt, Trommelwirbel sind schon zu hören, ein Schlagzeuger hat einen städtischen Papierkorb als Co-Becken in Benutzung, Ideen muss man haben. Vorbei an der fürstbischöflichen barocken Residenz, deren berühmtes Treppenhaus mit dem größten zusammenhängenden Deckenfresko der Welt, die vier damals bekannten Kontinente zeigend, den Bombenhagel Februar 1945 überstand, sodass der Elefant mit dem Steckdosenrüssel und der Strauß mit den Menschenbeinen noch im Original zu bewundern sind; überhaupt bietet der Kaisersaal der Residenz mit zwei Gemälden Anschauungsunterricht, wie katholische Geschichte funktioniert(e): Kaiser Friedrich Barbarossa drohte kinderlos zu bleiben, weswegen er eine zweite Ehe anstrebte: Streng verboten, damals. Die Lösung: Er fand den Bischof von Würzburg, der ihn traute, und – eine Hand wäscht die andere – gab ihm dafür das Umland, heute ein Teil Unterfrankens, zu Lehen. Der Bischof war zum Fürstbischof aufgestiegen, bis die schöne Einnahmequelle im Rahmen der Säkularisation 1804 an Bayern fiel, und damit in die Hände der CSU (pardon, das kam erst später). Hier blieb die Welt eben in Ordnung.

Km 18, scharfe Ecke, wunderschöner überraschender Blick auf die Barockkuppel der Pfarrkirche Stift Haug, enge Gassen, die etwas vor der Hitze schützen. Fußgängerzone, am Dom vorbei, ständig ein super Publikum, es wird angefeuert, viele Blickkontakte. 90-Grad-Kurve, eine breite Straße hinab zum Main, direkt gegenüber die steilen Weinberge, darüber die Festung Marienberg (da musste der Fürstbischof wohnen, solange noch die Ritter mit Kanonen schossen, bevor er in die komfortablere Residenz umziehen konnte), ein Wahnsinnsblick, und auch noch leicht bergab: Endorphinstoß!

Nun in Richtung Rathausplatz, durch die enge Glockengasse, wieder eine dieser Sambabands, „Santa Felicidade Würzburg“, kühl zwischen zwei Altstadthäuser gezwängt, und pausenlos Power für die Läufer. Dahinter die kontemplative Variante, Kneipe im Schatten mit Bierbänken draußen, der Typ mit dem Weißen sollte zwei Stunden später (bei der zweiten Runde) auch noch da sitzen. Rathausplatz: Die donnernde Blaskapelle – die Stadt dröhnt.

Km 21, „Marathon links, Ziel rechts“, es ist Halbzeit, jetzt müssen noch ein paar km geschrubbt werden, der Kurs führt auf der westlichen Mainseite weit nach Süden aus der Stadt hinaus ins Grüne. Auf einem Getränkestand ein knallroter SPD-Sonnenschirm: Was ist denn das? Da soll einer sagen, die Franken seien nicht tolerant. Hier ist die Welt eben noch in Ordnung.

Andererseits ist das Wahlkampfplakat für die anstehende Europawahl „Nur wer CSU wählt, gibt Bayern in Europa eine eigene Stimme“ da schon klarer. Deutschland und dessen so unnötige Vielparteienlandschaft sind für einen Bayern nur Folklore. Bleibt nur die Frage: Sind Franken gute Bayern? Im Parkgelände entlang des Mains gibt es noch Wald, sodass die Strecke wenigstens im Schatten verläuft…. – das hätte man nicht denken sollen – schon geht es über Wiesen und Felder, 30 Grad im Schatten ohne Schatten. Immer schön Wasser in Massen über Kopf und T-Shirt, und trinken was reingeht. An den Getränkestationen stets der beste Service, jeder Becher wird gereicht.

Vorort Heidingsfeld, Sound voraus „Wir rocken Ihre Party für 150 €“, Wendepunkt bei km 31, nochmal der Partyrock, Iris und Tim fahren mit dem Rad nebenher und feuern an, die Sonne glüht trotzdem, im Ortskern viele CSU-Fahnen Blau mit 12 gelben Sternen im Kreis (habe ich was verwechselt?), und wieder am Mainufer zurück in Richtung Zentrum, so langsam wird es zäh. Wo bleibt die Musik?

Km 37, Altstadtambiente, so langsam haben sich auch die Häuser und die Pflastersteine aufgeheizt, ein altes Mütterchen macht bedächtig ihren Weg, schaut herüber, Blickkontakt, lächelt freundlich und sagt „Gut“, nickt nochmal: „gut!“. Überhaupt ist auffällig, dass der Lauf kaum abgesperrt ist, Passanten, Zuschauer und Läufer sind irgendwie eine Einheit, Barrikaden dienen fast nur dazu, den Läufern den Weg zu weisen. Ein gemeinsames Fest. Hier ist die Welt einfach noch in Ordnung.

Km 38, zum zweiten Mal an der Residenz vorbei, irgend etwas stimmt nicht. Es ist so leise. Es sind keine Menschen mehr da! Alles wie leergefegt. Ich schaue mich um – liegt es daran, dass rechts das Parteibüro der SPD liegt? In der nächsten Altstadtgasse: Ein Begräbnisunternehmen? Die Uhr zeigt 3:25, d. h. es ist kurz vor halb Eins – und es wird alles klar: Die Franken sind alle mittagessen! Um zwölf geht man zu Tisch. Kein moderner Schnickschnack mit Fast Food und so – hier ist die Welt noch in Ordnung!

Ein letztes Mal an der donnernden Blaskapelle vorbei (eingeflogene Fremdlinge?) – jetzt erst fällt mir auf, dass sie als Piraten verkleidet sind; über voll aufgeheiztes Pflaster auf die glutrot im Sonnenglast leuchtende Marienkapelle am Marktplatz zu (so ähnlich muss wohl das Fegefeuer sein – die Kühle im Innern der Kirche bleibt ein unerreichbarer Traum), km 41 noch eine Rockband „Wir stellen uns immer vor, vor 80 000 Menschen zu spielen“, km 42 dreschen die letzten Franko-Brasilianer auf ihre Trommeln, und noch 200 m Steigung über die Matte. Geschafft!

Die Halbmarathonis bilden das Empfangskomittee, Rolf kommt, wie immer entspannt, in kurzem Abstand, Andreas hat die Hitze etwas gebremst (oder waren es die Quasi-Brasilianerinnen?), und langsam weicht die Anspannung. Im Congress Center (genau: Mit Christlichen „C’s“) liegen reihenweise die Massagebedürftigen.

Würzburg-Marathon 2009 in Stichworten:

Stadt und historisches Ambiente: Note 2, mit Benchmark Florenz
Publikum: Note 1-2, mit Benchmark New York
Musik, Qualität und Spieldauer: Note 1, Best of Class!
Organisation und Betreuung auf der Strecke: Kompliment an Franken!
Streckenverlauf mit Steigungen, Kurven, Kopfsteinpflaster – zusammen mit dem Wetter: Nur für Hartgesottene!

Wer Zweifel an sich und der Welt haben sollte, Midlife Crisis oder andere psychische Instabilitäten, wer Orientierung sucht, der ist hier gut aufgehoben, hier, wo die Welt noch in Ordnung ist.

Gunther Mair